Sin City verschwindet zögerlich am Horizont. Einen langen Tag sinnieren wir über die befremdliche Aura dieser Stadt bis uns eine neue Attraktion für sich gewinnt, wenn auch nur oberflächlich. Hoover Dam. Nachdem wir uns gegen einen Spaziergang auf der Staumauer des Colorado Rivers entscheiden, einfach mangels Lust auf 20 Kilometer Umweg, ist unsere noch größere Attraktion der dritte Bundesstaat auf unserer Tour. Arizona. Spannend, wie schnell sich damit auch die Landschaft ändert. Canyon-artig zerklüftete Berge, die sich bis zum Horizont erstrecken, lassen uns geradezu in den Grand Canyon State eintauchen und lösen die Wüste Nevadas ab. Ein gewaltiger Sternenhimmel baut sich über uns auf, wir beginnen Gefallen an Freiluftnächten zu finden und verzichten auf Hugos schützende vier Wände.
Ein viel zu viel befahrener Highway 93 führt uns zurück in die Vergangenheit der 40er und 50er Jahre, jene Jahre in denen die Route 66 ihren Zenit als wichtigste Ost-West-Verbindung von Chicago, Illinois nach Santa Monica, Kalifornien durchlebte. Längst ist sie nicht mehr durchgehend befahrbar, die Mother Road, und doch ein Magnet für Nostalgiker auf der ganzen Welt. Auch wir holen uns unsere Kicks auf der historischsten aller Straßen Amerikas, die sich durch die Weiten des Landes windet, sich im Horizont verliert und mit sich unsere Gedanken und Fantasien trägt. Wie keine andere allegorisiert sie die Freiheit, versinnbildlicht sie Aufbruchsstimmung, Hoffnung und Abenteuer gleichermaßen. Wo würden da jene Gesellen besser ins Bild passen als hier, die dem amerikanischen Mythos von Freiheit und Abenteuer zumindest ein Stück weit auf ihren Kultzweirädern folgen. Und wir reden hier nicht über Tigre und Mariposita… Dennoch, kaum ein Diner, das wir nicht ablichten, kaum eine Retro Tankstelle, an der wir uns nicht im Schatten einer Betty Boop Figur ein Tässchen Kaffee gönnen und in den Glanz der Vergangenheit eintauchen. Heute ist die Kultstraße nur noch in Bruchstücken befahrbar und der Asphalt ein Opfer der Zeit, was bleibt ist dieser Hauch an Nostalgie, der uns Meter für Meter begleitet und der Route 66 ihre Einzigartigkeit verleiht. Wir orientieren uns ein Stück weit nordwärts auf der Suche nach Größerem. Etwas, das die Jahrtausende überstanden hat, sogar von den Jahrtausenden kreiert wurde. Ein Meisterwerk der Natur, der Grand Canyon. Der erste Eindruck lässt sich kaum in Worte fassen. Keine Fotos, kein Film, keine Erzählungen können uns auf den überwältigenden Moment vorbereiten, als wir erstmals am Abgrund dieser gewaltigen und majestätischen Canyon Landschaft stehen, die sich bis zum Horizont erstreckt und sich zunehmend in abendliches Rot hüllt. Eine wahre Sternstunde unserer Reise...Den gesamten nächsten Tag radeln wir entlang des südlichen „Abgrundes“, dem South Rim und blicken immer wieder hinab in die Tiefen der Erdgeschichte. Gutta cavat lapidem, steter Tropfen höhlt den Stein, und doch ist es kaum vorstellbar, dass der in der Tiefe türkis leuchtende schmale Colorado River eine Kreation von solchem Ausmaß im Laufe der Zeit schaffen konnte. Unser allzu knappes Zeitkontingent erlaubt es nicht, uns per pedes hinab zu wagen, aber wir kommen wieder, keine Frage. Wir verbringen die Nacht unter freiem Sternenhimmel, lassen uns von den ersten Sonnenstrahlen, die in der Nase kitzeln, und dem fernen Geheule der Kojoten wecken. In gewisser Weise empfinden wir das zeltlose Campen als eine weitere Steigerung unserer Freiheit. Wo es uns gefällt betten wir unser Haupt, den Gewalten ausgesetzt, eins mit der Natur…idyllisch, sofern man nicht inmitten der Nacht von plötzlich einsetzenden Schauern geweckt wird… An den Nationalpark schließt sich das ausgedehnte Navajo-Reservat an. An den zahllosen Aussichtspunkten bieten sie handgefertigten Schmuck und kleine Souvenirs an. Wir unterhalten uns das eine oder andere Mal und lauschen aufmerksam den Mythen und Geschichten des Stammes. An vielen Ecken existieren nach wie vor Trading Posts, ehemalige Tauschzentren, die mittlerweile eher dem einseitigen Handel mit Mitbringsel und Kunsthandwerk dienen. Zudem wird im gesamten Reservat kein Schlückchen Alkohol verkauft und dennoch finden wir gerade hier die meisten Bierdosen und –Flaschen, die achtlos in den Straßengraben geworfen wurden. Es muss ein verwirrendes Dasein zwischen den Kulturen sein. Einerseits an die Traditionen und den Glauben der Stammesväter gebunden zu sein und dennoch in einer Welt großgeworden zu sein, die mit all dem keinerlei Verbindung mehr aufweist. Seine Wurzeln zu kennen, Traditionen aufrecht zu erhalten, Ahnenforschung zu betreiben sind bedeutende Werte im gesamten Land, das erfahren wir nicht nur hier und nicht nur einmal. Ein atemberaubender Landstrich, den die Navajo zu ihrem Land zählen dürfen zeichnet sich bereits in meilenweiter Entfernung ab. Teils grazile, teils massige Türmchen und Türme die aneinandergereiht in unterschiedlicher Größe und Höhe in die Lüfte ragen, eine Szenerie geradezu geschaffen für die Romantik der unsterblichen John Wayne Westernklassiker – Monument Valley. Meisterwerke aus Sandstein, über Jahrmillionen erodiert, thronen als atemberaubende Monumente inmitten der rötlich kargen Wüste und bilden ein anmutiges und überwältigendes Ensemble, das die Grenze zwischen Arizona und Utah bildet. Den Mormonenstaat streifen wir nur an seinem Südöstlichen Ende und steuern geradewegs auf die Berglandschaft Colorados zu, die Rocky Mountains. Im Süden deutlich niedriger als ihre Nachbarn im Norden bilden sie am Horizont dennoch ein imposantes Panorama aus Fels und Schnee und kosten uns immerhin über tausend Meter Steigung, um den ersten von zwei Pässen, Wolf Creek Pass (3.310 m) zu überwinden. Die Passhöhe wird von einem interessanten Schild geziert – Continental Divide – eine geographische/hydrologische Scheide, von der aus alle Flüsse ostwärts in den Atlantik und westwärts in den Pazifik münden. Unser höchster nordamerikanischer Pass und die symbolische Mitte seien hiermit überschritten. Nicht unweit dieses Passes, in der sich anschließenden weiten und landwirtschaftlich intensiv genutzten Tal ebene wartet eine besondere Begegnung auf uns. Ernest, 88 Jahre und ehemaliger Berufspilot wackelt auf seinen Gehbock gestützt an uns vorüber und lädt uns nach kurzem Gespräch ein, mit ihm auf seiner „Ranch“ zu nächtigen und zu dinieren. Kein Schlafplatz ward bis dahin gefunden, also stimmen wir freudig zu. Es stellt sich allerdings heraus, dass diese Bleibe etwa 30 Meilen entfernt und auf einem Hügel liegt und weder über Strom noch fließend Wasser verfügt. Da sich der alte Mann jedoch schon über alle Maßen über seinen Besuch freut, können wir uns eine Absage nicht mehr erlauben, laden die Räder in seinen uralten Truck und begleiten ihn in seine „Junggesellen-Villa“. Rustikal und wohl lange nicht von einer ordnungsliebenden Gattin (sie verweilt in Florida) gesehen. Der pensionierte COPA/AlItalia(…) Pilot gibt sich alle Mühe es uns gemütlich zu machen. Wir speisen Pizza und Schokolade, dürfen in seinem Bettchen schlafen, während er zwei Meter neben uns sein Klappbett aufstellt und darauf besteht darin zu nächtigen. Am nächsten Morgen, etwas schlaftrunken, bringt Ernest uns und unsere Räder nach deftigem Frühstück zurück an den Ort des ersten Treffens am Vortag, denn wer uns kennt, weiß, dass wir nur im Falle einer ernsthaften Erkrankung „schummeln“ und den Weg abkürzen. Vor uns und beinahe genauso rasch hinter uns liegt der zweite und auch schon wieder letzte Pass der Rocky Mountains – La Veta Pass. Nach ihm folgt die große Ebene, the Great Plains von Ost-Colorado und West-Kansas. Fein denken wir uns, da werden wir geradezu fliegen, kein Hügel, der uns mehr aufhalten kann. Da hat man, wie schon des Öfteren, eine Rechnung ohne Wirt gemacht. Ein heftiger Wind bläst uns entgegen, bauscht sich regelmäßig zu einem Sturm und Gewitter auf und beginnt uns das Leben wirklich schwer zu machen. Die Straßen verlaufen pfeilgerade und enden flimmernd am Horizont, das einzige untrügliche Zeichen unseres Vorwärtskommens sind die geduldigen Meilenmarkierungen und die rhythmisch auftauchenden Skyscraper der Great Plains, die Getreidespeicher, die im Zeitlupen-Tempo an Größe zunehmen, langsam an uns vorbeiziehen und hinter uns verschwinden. Täglich gegen Mittag wächst die Morgenbrise zu einem heftigen Widerstand gegen uns heran, die Tage im Sattel werden lang (6-8 Stunden täglich) und fordern unsere Geduld auf Äußerste. Dennoch überwinden wir täglich zwischen 110 und 140 Kilometer, in der Hoffnung, nach beinahe drei Wochen unermüdlichem Radeln bald eine Pause einlegen zu können. Noch ist es nicht so weit. Im kleinen Dörfchen Ellsworth beherbergen uns die „süßen“ Besitzer des Eislädchens „Sugar Shack“ in ihrem Garten und versüßen uns den Abend mit Eis, netter Gesellschaft und Riesenseifenblasen. Am Folgetag werden wir zu Freunden weitervermittelt, Suzie und Audie, die uns herzlich empfangen, in ihrem Schloss logieren lassen und uns mit Whirlpool, Massage-Bett und unübertrefflich leckerem Essen verwöhnen. Wer wollte da nicht endlich einen Tag Rast einlegen… Durch Farmland, mal Getreide, mal Viehwirtschaft, ostwärts mal mehr oder weniger hügelig, mehr oder weiniger kurvenreich manövrieren wir uns an die Grenze zu Missouri und beschließen die Räder doch für ein paar Tage ruhen zu lassen, ein Auto zu mieten und einen Besuch bei Christophers Gasteltern (aus Highschoolzeiten anno 96) in Forest City, Iowa, einzulegen. Ein Ausflug in ein Jahr High School Vergangenheit und bei Jim und Roz, die uns mit allen Mitteln der Kunst verwöhnen und unsere geschunden Körper mit viel Liebe wieder aufpäppeln ☺
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November 2014
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