Bisher hatte uns Bolivien ein einsames, märchenhaftes und konkurrenzlos schönes Gesicht offenbart. Mit entsprechenden Gefühlen brechen wir auf, um das Herz des Landes kennenzulernen. Schon nach wenigen Kilometern außerhalb Uyunis entfaltet sich eine karge, dennoch beeindruckende hügelige Hochebene mit kleinen Schluchten, grasenden Alpacaherden und letzten Ausblicken auf das ewige Weiß des Salar de Uyuni. Riesige Kakteen, stachelige Fuchsien, kleine Gehöfte mit Ziegen und Kühen und spannende geologische Formationen aus bunt geschichtetem, aufgeworfenem Sediment sorgen für Abwechslung und Ablenkung von den Strapazen. Auch Freund „W“, bereits bekannt aus patagonischen Tagen, wer sich daran erinnern möchte, meldet sich lautstark zu Wort…ein kleiner Pass, ein kleines Lüftchen und blitzartig eine gewaltiger Titan, ein Sandsturm, gegen den zu kämpfen fast unmöglich erscheint. Augen, Nase und Mund sind voll von aufgewirbeltem Staub und selbst in einer Schlucht finden wir kaum den erhofften Unterschlupf. Erst nach vielen Stunden schieben und ringen um jeden Meter dreht sich das Glück und der Wind und wir gleiten leicht und beinah unbeschwert über 4.200 Meter hohe Pässe hinweg. Canyons, die an Karl May Filme erinnern mit spitzen Felsnadeln und eine gewagt konstruierte Eisenbahnstrecke entlang der schroffen Felsen dominieren die Landschaft – spannend, imposant und versöhnlich... Nach drei harten und abwechslungsreichen Tagen erblicken wir in der Ferne das Ziel unserer Etappe, Potosi, Silberstadt und höchstgelegene Großstadt der Welt auf über 4000 Metern , deren Geschichte an einem Lagerfeuer beginnt… 1544, der Inca Diego Huallapa entzündet am Fuße des Cerro Rico ein Feuerchen und bemerkt, dass darunter die Erde silbrig schimmernd zu schmelzen beginnt. Sofort realisiert er, dass es sich dabei um etwas handeln muss, wonach die Conquistadores unstillbaren Hunger verspüren. Nachfolgend beginnt der Silberabbau im großen Stil. Die Arbeit ist hart und gefährlich, tausenden kostet der Berg das Leben. Um die Produktivität zu erhöhen werden afrikanische Sklaven importiert, die in der für sie ungewohnten Höhe und die menschenunwürdigen Bedingungen nicht lange überleben. Ende des 17 Jahrhunderts erreicht sie eine sagenhafte Blüte, wird zur Hauptquelle spanischen Silbers und wächst zu einer der bedeutendsten Städte der Welt heran… Potosí steht jahrhundertelang als Synonym für Reichtum und noch heute findet man die Redensart vale un Potosí für: „Es ist ein Vermögen wert“. Ende des 19. Jahrhunderts beginnen die Silbervorkommen zu sinken und heute werden vorwiegend Zinn und Zink abgebaut. Die Stadt schmiegt sich wie ein verwöhntes Kätzchen an ihren „Schöpfer“, der wie ein Mahnmal übermächtig dahinter thront. Gänsehaut überkommt uns alleine bei seinem Anblick, ein Besuch in seinem Innersten, den Minen, der Hölle, steht uns bevor. Mit Schutzkleidung und kleinen Geschenken – Cocablätter, Dynamit, Cola - für die Arbeiter ausgestattet, arbeiten wir uns entlang der Gleise in die Stollen vor. Die anfängliche Kälte weicht alsbald einer feucht-schwülen Hitze, ein beißender Geruch dringt uns in Augen, Nase und Lungen, erschwert das Atmen und löst tiefe Beklemmung aus. An Wänden und Decken, die großteils von mächtigen Balken gestützt werden, schillert es in bunten Farben, grünes Kupfer, gelber Schwefel, rotes Eisen, wunderbar auskristallisiert wie in Rübezahls Märchenwelt. Meter für Meter, tief gebückt und kriechend, kletternd und rutschend, ein riesiger Berg mit 500 Jahren Bergbaugeschichte über uns, stoßen wir bis „Level 4“ vor, 55 Meter unter der Erde, wo wir auf schweißtriefende, erschöpfte Minenarbeiter treffen, die gerade Tonnen-schwere Waggons, mit Erz beladen, die Gleise entlang nach außen verfrachten. Nur das Kauen von Unmengen an Coca erlaubt ihnen diese unmenschlichen Bedingungen einigermaßen zu ertragen. Die Jüngsten sind gerade mal sechszehn Jahre, vor ihnen steht eine Zukunft härtester körperlicher Arbeit und früher oder später schwerste Lungenerkrankungen, die ihren Henker darstellen…Niederschmetternde Perspektiven…Alternativen? Potosi lebt vom Bergbau im Cerro Rico, also nein…Nach 2 Stunden in den Tiefen des Berges erblicken wir endlich das Licht am Ende des Tunnels, wir können frei durchatmen, die Welt hat uns wieder. Uns stehen Schrecken und Erleichterung ins Gesicht geschrieben, doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt… Szenewechsel… Blumen am Bett, Geschenke, Sekt – unser erster Hochzeitstag, den wir dankbar und glücklich in der Silberstadt verbringen. Die Abfahrt aus Potosi fällt schwer - Schneefall und Montezumas Rache stellen schlechte Vorzeichen für einen erfolgreichen Radtag dar. Zudem bleibt das Landschaftsprofil, wie bereits gewohnt, schonungslos bucklig, sodass erneut drei beschwerliche Tage vor uns liegen. Die tiefer liegenden Täler lassen nun auch die tropischen Breiten erahnen, üppige Vegetation, Feigen- und Zitrusbäume, saftig grüne Wiesen und kreischende Papageien… Sucre, die Hauptstadt Boliviens ohne Regierungssitz, schenkt uns frühlingshafte Tage inmitten ihrer sauber gepflegten Kolonialarchitektur, mit weiß gekalkten Gemäuern, unzähligen Kirchen und einem charmanten Palmen-gesäumten Hauptplatz. Urlaub, vom „Urlaub“, den wir ausnahmsweise in einem komfortablen Hotel mit Frühstücksbuffet (!!!) verbringen. Geschwind ziehen die Tage des Müßiggangs vorbei und wir finden uns am Rande der Stadt wieder, auf eine senkrechte Lehmwand starrend…Was wir zu finden glauben und hoffen, verrät ein riesiger Kunststoff-Dinosaurier, der drohend neben die Straße platziert wurde. Und dann demarkieren sich für unsere Blicke die einzelnen regelmäßigen Fußstapfen der Urzeitriesen, die regelmäßig verteilt über den gesamten Abbruch des Hügels ziehen…Ein Blick zurück in ein längst verstrichenes Zeitalter der Erdgeschichte. Nur noch wenige Kilometer entlang eines breiten und kultivierten Flussbettes werden wir mit Asphalt verwöhnt, bevor die berüchtigte (zumindest für Radler) „Empiedrada“ beginnt, eine beinharte Pflasterstraße aus großen runden Flusskieseln, die einem zügigen Vorwärtskommen gnadenlos den Riegel vorschiebt…malerisch anzusehen ist dieses Kunstwerk jedoch allemal. Das Tal wird zunehmend weiter, wir streben abermals in luftige Höhen und genießen grandiose Ausblicke in eine atemberaubende Hügellandschaft. Eng schmiegt sich der Pfad an die Berghänge, die mitunter unmittelbar neben uns hunderte Meter in die Tiefe führen. Einzelne Adobe-Häuser thronen auf den Höhenrücken, Ziegenherden grasen auf den trockenen Weiden und ein paar freche Kinder rufen uns kichernd „Gringos“ nach. Je langsamer sich unser Vorankommen gestaltet, desto mehr schweifen unsere Blicke über die Umgebung und das Leben der Landbevölkerung, das sich hier täglich abspielt. Die Felder ziehen sich weit hinauf bis in die steilsten Hänge, teilweise trotten eingespannte Ochsen vor dem Pflug durch die kargen Flächen, öfter noch ist die Bestellung der Felder reinste Handarbeit. Frauen, Kinder, Männer, Jung und Alt, alle helfen mit, um für den Unterhalt der Familien zu sorgen. Kartoffel werden auf den Äckern in Säcke gefüllt, neben der Straße formt man gerade Ziegel aus Lehm und lässt sie in der Sonne trocknen, ein an die neunzig Jahre alt wirkender Senor mit faltig gegerbtem Gesicht schleppt Feuerholz auf dem Rücken nach Hause, meckernde Ziegen und grunzende Schweinchen werden an ihren Leinen auf die Weide geführt und ein hysterisches „IAIA“ hallt durch das gesamte Dorf. Ein hartes und einfaches Leben, aber auch idyllisch und vielleicht entspannter, als wir es uns auch nur vorstellen können. Liebenswürdig reagieren die Menschen auf unsere Grüße, interessieren sich für unsere Reise, wünschen uns Glück, lassen uns in ihrem Garten biwakieren und beschenken uns mit Kartoffeln, Mais und Bananen. Eine Großmütigkeit und Herzlichkeit, die uns in dieser entlegenen und touristisch unerschlossenen Gegend und in Anbetracht der Strapazen ganz besonders beglückt. Nach einem Marathontag mit 115 km, 1130 hm, über einen Pass und gegen Wind erreichen wir Cochabamba, wo wir bei Hutch, 73 Jahre alt und gerade eine 7 –jährige Radweltreise beendet, unser „Re-Hugio“ aufstellen und ein paar Tage rasten dürfen, bevor wir in noch entlegenere Gebiete Boliviens vordringen wollen. Hasta luego Gringos muchos abrazos Agnes y Christopher
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November 2014
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