Ungeduldig jagt Christopher die geschäftige Calle Illampu auf und ab…auf der Suche nach einem raren Gegenstand in der Stadt, Schuhe in Größe 47. Seine eigenen haben es sich irgendwo auf den Schotterstraßen Boliviens nicht nehmen lassen die Reise abzubrechen und in Gummilatschen – so treu sie auch sein mögen - lässt sich unser Projekt Berg nicht gerade problemlos ausführen. Nach langem Hin und Her wird man in der Reiseagentur doch fündig und der Minivan, in dem wir zu viert zappelig warten bekommt das erlösende Freizeichen. Wir drängeln durch die engen Straßen La Paz bis wir endlich dem Ballungszentrum entfliehen können und über das karge Altiplano, vorbei an surreal anmutenden rosa-orangen Lagunen in Richtung unseres Berges, den 6.088 Meter eisig aufragenden Huayna Potosi, rasen. Den Nachmittag verbringen wir mit Pickel und Steigeisen auf der „Übungsbühne“, einem der Gletscherausläufer, klettern die Eiswand hinauf und hinunter, werden von der Vorfreude und der Aufregung auf den kommenden Tag geradezu beflügelt. Nach einer Nacht im Base Camp schultern wir kurz nach Mittag unsere schweren Rucksäcke – es geht los, frohen Mutes stapfen wir über eine schottrige Endmoräne unserem Wagnis entgegen. In einem provisorisch eingerichtetem Freiluftbüro entrichten wir 10 Bolivianos (1 €) Nationalparkgebühr, schnallen die Steigeisen an und marschieren über einen schmalen Pfad durch sulzigen Schnee in immer eisigere Höhen zum „High Camp“ auf 5.300 Metern. Die letzten 150 m, immer dünner werdende Luft und ein zunehmender Gradient, strapazieren zunehmend unsere Kräfte. Die Aussicht auf die umliegenden 6.000er, die tief unter uns liegenden Stauseen und den Gletscher ist dafür im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Berauscht durch den ersten Teilerfolg genießen wir das Panorama und die letzten wärmenden Strahlen der Sonne, bevor wir uns am frühen Abend in die Schlafsäcke kuscheln, um so viel Schlaf wie möglich vor dem Gipfelsturm zu ergattern. Es sollte nicht mehr werden als ein Wälzen und Drehen, ein Schlafen und Erwachen, ein Ringen nach Luft und sich selbst Beruhigen, bevor uns Bergführer Luis um 1.20h in die müden Gesichter leuchtet – es ist Zeit aufzustehen. Schlaftrunken und erregt zugleich packen wir die Ausrüstung, hüllen uns in mehrere Schichten Funktionskleidung und treten in die eisige Kälte der Nacht hinaus, die durch einen berauschend klaren Sternenhimmel geziert wird. Sternschnuppen flitzen über unsere Köpfe hinweg und der sichelförmig über uns hängende Mond erleuchtet geduldig den Weg. Flach kreuzen wir zunächst Richtung Gipfelmassiv, bevor es zunehmend steiler wird und wir nur parallel unsere Schritte setzen können. Wir kommen gut voran, arbeiten uns an einigen Seilschaften vorbei, setzen einen Fuß vor den nächsten, so schwer er auch fallen mag, so viel Anstrengung und Atemzüge er auch kosten mag. Nach drei Stunden verweilen wir ein letztes Mal in der klirrenden Kälte und sammeln unsere Kräfte für die verbleibenden 80 Meter, die uns vom Triumph trennen. Ein schmaler eisiger Grat führt steil an einer gefrorenen Schneewächte ans Ziel. Kaum, dass wir unsere Schritte sicher aufsetzen können, weder Steigeisen, noch Pickel wollen sich so richtig fest verhaken. Links fällt der Hang beinahe 90 Grad ab, rechts hinter der Eiswand können wir das Gleiche erahnen. Noch versuchen wir uns von dem sich offenbarenden Panorama zu distanzieren, zu groß die Gefahr der Ablenkung und eines Fehltrittes. Jeder Schritt eine Überwindung, jeder Schritt ein tiefer und doch unbefriedigender Atemzug, jeder Schritt näher unserem ersten gemeinsamen 6.000er…Wenige Augenblicke später ist es geschafft, auf 6.088 Metern über dem Meeresspiegel sacken wir auf dem Gipfel des Huayna Potosi in den kalten Schnee. Erschöpft, berauscht, überglücklich, wir sind die Helden des Augenblicks – ein Moment für die Ewigkeit. In Rot- und Orangetönen zeichnet sich der neue Morgen am Horizont ab und verabschiedet die eisige Nacht. In der Ferne funkeln die Milliarden Lichter der Stadt, der riesige Titikakasee liegt wie ein Winzling weit und tief unter uns…Magisch…Die aufgehende Sonne erleuchtet nun jeden Winkel des vorher im Dunkel verborgenen Berges und gibt ihn beim Abstieg für unsere Blicke frei. Im ewigen Weiß scheint alles unter uns einer anderen Welt anzugehören. Wie im Rausch steigen wir zum High Camp, zum Base Camp und blicken nur kurze Zeit später stolz und sehnsüchtig aus dem Fenster des Minivans zurück auf unseren Berg, unseren 6.000er, unseren Huayna Potosi. Inbrünstig umarmt uns die lärmende Großstadt wie eine überschwängliche Liebhaberin, Marktgeschrei, hupende Taxis, unzählige Touristen, die sich im historischen Zentrum La Paz mit bunten Souvenirs und Geschenken eindecken. In den engen steingepflasterten Gässchen rauchen überall kleine Öfen, in die tanzende und traditionell gekleidete Bolivianer Coca Blätter und aromatische Kräuter werfen, eine lange Stoffbahn wird mit Bananen, Kartoffeln und Fleisch belegt, Bier auf den Boden geschüttet… Die kleinen Läden am Mercado de Brujas (Hexenmarkt), deren Pforten getrocknete Lama Embryos und –Föten „zieren“ sind gut besucht von Jung und Alt, Arm und Reich, Modern und Traditionell – sie alle widmen den ersten August voll und ganz Pachamama (Mutter Erde), bringen Opfergaben dar und erbitten so gute Geschäfte, Gesundheit…. Es ist spannend sich in diesem Trubel aus Gesang, Tanz und Feiern ein wenig zu verlieren… Wir lösen uns aus den Klammern der Stadt, verlassen das familiäre Ambiente der Ciclistas und ziehen weiter, immer der Nase nach. Die eisigen Riesen der Cordillera Real verabschieden uns am Horizont bis das ewige weite Blau des höchsten schiffbaren Sees der Erde und zweitgrößten Sees Südamerikas auftaucht – des Lago Titikaka. Eine grandiose Panoramastraße leitet uns entlang des Ufers in das umtriebige Copacabana, das als wichtigster Wallfahrtsort Boliviens gilt. Eine prächtige Basilika im maurischen Stil beherbergt die „Virgen Morena“ (Dunkle Jungfrau) mit einer Krone aus purem Gold. Hunderte oder tausende bunt geschmückte Autos, vorrangig peruanischer Herkunft verstopfen die Straßen und die Seepromenade der Stadt – sie warten darauf ihre Autos segnen zu lassen. Hinzu kommen die Feierlichkeiten um den bolivianischen Staatsfeiertag, den sechsten August, alles in allem eine skurrile Melange aus Jahrmarktsstimmung und Pilgerflair –Rosenkränze, Heiligenbilder und Madonnenfiguren, Esel Fett und sonstige Allheilmittel, Schals, Tücher und Kleidung aller Art, Obst und Gemüse –alles wird auf dem Marktplatz emsig feilgeboten. Wir entfliehen dem Getümmel und Gewusel, suchen ein bisschen Spiritualität und Ruhe auf der Isla de Sol (Sonneninsel), die in der Incamythologie und schon in Vor-Inca-Zeiten eine wichtige Rolle spielte. Zwei Stunden schippern wir über den etwas unruhigen See und werden an der Nordflanke des Eilands ausgesetzt. Der magere und etwas hektisch anmutende Aymara (indigener Stamm im Altiplano Boliviens) Franko führt uns die steilen terrassenförmig angelegten Hügel entlang zum heiligsten Ort der Insel, dem Pumafelsen. Leidenschaftlich und flammend entführt er uns in die Sagenwelt, die um die Isla del Sol rankt, wo der Sonnengott seine Kinder, den ersten Inka und seine Frau, zur Erde gelassen haben soll… Über den Höhenrücken der Insel – mit Blick auf den überdimensionalen See und die umgebenden Schneespitzen - spazieren wir an das Südufer der Insel, wo wir zurück in den Trubel Copacabanas befördert werden. Nach mehr als zwei Monaten ist es nun soweit, Abschied nehmen, etwas Neues beginnen, die Grenze überschreiten, Peru wartet... Eine weitere spannende, unikale und bemerkenswerte Kultur am Lago Titikaka wollen wir für uns ergründen…Was mag sich der erste Uru gedacht haben, was mag man über ihn gedacht haben, wie mag sein Volk wohl reagiert haben auf seinen Vorschlag? Unmöglich, verrückt, unausführbar… Wie groß muss die Bedrohung durch überfallende Stämme gewesen sein, dass der Plan dennoch in die Realität umgesetzt wurde? Welche Alternativen hätte es gegeben? Das Festland für immer zu verlassen, den Titikakasee zum Lebensraum werden zu lassen, neue Inseln zu erschaffen – nicht aus Stein, nicht aus Fels – Nein, meterdicke Schichten aus Wurzelstock und Halmen des Totora-Schilfs, auf denen der Stamm der Urus Zuflucht suchte und fand. Langsam treiben wir auf die kleine artifizielle Welt, fünf Kilometer vor Puno, gespannt darauf, was uns erwartet. Über sechzig solcher Inseln existieren, obgleich nur noch wenige Urus diese harte Lebensart auf dem Wasser bevorzugen und viele zurück aufs Festland zurückgekehrt sind. Auf der ersten Insel, die wir ansteuern leben zwanzig Personen – sechs Familien – in einfachen Hütten aus Schilf. Die Zeiten haben sich dennoch auch für sie weiterentwickelt, ein solarbetriebener Fernseher sorgt für Unterhaltung, Motorboote lösen die prächtigen Schilfboote ab und der Tourismus wurde zum integralen Bestandteil des Lebensunterhaltes. Souvenirs werden angeboten, in Restaurants und kleinen Geschäften sorgt man für das leibliche Wohl der Gäste aus aller Herren Länder. Fernab jedoch vom Festland, wo nur wenige Besucher den Rhythmus der Bewohner stören, wird ein noch authentisches Leben bevorzugt… Trotz aller Kommerzialisierung eine spannende Reise in eine Welt, die wir eher im Reich der Comics und der Fantasie erwarten würden… Wie es dann weiter ging? Das erfahrt ihr beim nächsten Mal! Also dran bleiben und einschalten wenn es wieder heißt... ach, was reden wir, der nächste Beitrag kommt bestimmt, wir radeln schon mal voraus…
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2/8/2013 Vom Leben und Überleben auf der "Todesstrasse" und anderen Bolivianischen AbenteuernRead NowUnsere Geschichte beginnt an einem Montag, der Start in eine ganz „gewöhnliche Arbeitswoche“, die es auch für uns gibt. Schnell die letzten Bissen des Frühstücks hinunterschlingen, Fotoshooting mit Gastgeber Hutch, Hugo abbauen, die Räder satteln und im Nu sind wir „on the road again“. Das grobe Ziel – La Paz. Nun gibt es hier zum Einen die asphaltierte und stark frequentierte Hauptstraße, zum Anderen einen klitzekleinen Umweg über die sogenannten Yungas, eine sub-und -tropische Region im Norden der Metropole. Die Straße, sollte es überhaupt eine sein, kennt zu unserem Nachteil niemand (nichtmal die Polizisten im Ort wo diese abzweigt), ist auch nirgends beschrieben und lässt uns zumindest erahnen, dass es sich dabei wohl eher nicht um die einfachere der beiden Varianten handelt. Für kurze Zeit verschlingt uns noch das Verkehrsgetümmel Cochabambas, bevor eine unmarkierte Straße rechts abzweigt und uns geradewegs in die Berge hineinführt. Noch breiten sie sich vor uns wie eine gewaltige Mauer aus, kein Weg sichtbar der uns darüber führen oder besser noch daran vorbeischmuggeln könnte. Der Asphalt endet, Empiedrada beginnt…Nicht schon wieder - tiefe Seufzer - denn die Erinnerungen an die letzte derartige Radl-Erfahrung sind doch noch schmerzvoll aktuell und lassen uns unsere Pläne zumindest im Ansatz kritisch hinterfragen. Zu allem Überfluss wird die Steigung rasch und zunehmend steiler, bis zu 15%, sodass zuweilen auch das Schieben über die groben Pflastersteine zu einem außerordentlichen Kraftakt wird und ca. die Hälfte unseres Teams (wir wollen ehrlich sein, die weibliche) in Tränen aufgelöst am Straßenrand hockt - Rad stiefmütterlich in weiter Ferne - und über den Sinn der Operation „Todesstraße“ sinniert… Hinter uns verschwindet nur langsam das Häusermeer der Stadt, vor uns noch immer keine Aussicht auf ein Ende der Qualen, zumal wir auch erst den zweiten Tag (von noch ungeahnt vielen) unterwegs sind. Mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten, brennenden Oberschenkeln, das ferne Ziel vor unserem geistigen Auge, gelangen wir zur Passhöhe auf 4.400 Metern Höhe, 2.000 Meter über unserem Ausgangsort. Karg und teils schneebedeckt umgeben uns trotz der Höhe die noch gewaltigeren Fünftausender, seit Langem beobachten wir wieder Alpaca-und Lama-Herden in den spärlich bewachsenen Hängen grasen und Kondore kunstvoll über uns kreisen. Inmitten der friedvollen Hochland-Kollage schlagen wir das Nachtlager auf. Am Folgemorgen rollen wir erst mal lange bergab – endlich (!?) - durch aromatische Eukalyptuswälder, vorbei an Bauern und Bäuerinnen, die schon frühmorgens ihre Ochsen auf die Felder führen. Das ländliche Leben, das imposante Panorama in die umliegende Bergwelt, beides lenkt unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich und so bemerken wir erst beim Anblick der nächsten „Subida“ (Anstieg), die sich mit 16% steil an den Felsen schmiegt, der neben ihr unmittelbar in die Tiefe führt, dass wir wieder unsere Ausgangshöhe erreicht haben und alle mühevolle Arbeit der letzten zwei Tage in zwei Stunden „zunichte gemacht“ wurde. Der letzte passierende Pickup vor Einbruch der Dämmerung hält neben uns und die gut gelaunte Mannschaft an Straßenarbeitern muss wohl Mitleid mit uns gehabt haben, lässt uns an einem Schälchen Fanta laben und spendiert uns ein Säckchen Coca-Blätter. „Heiter immer weiter mit der Boca (Mund) voll mit Coca“ lautet das Motto unter dem wir am nächsten Vormittag einen weiteren Berg erarbeiten. Die Fernsicht scheint uneingeschränkt, je höher wir uns hinaufarbeiten, desto mehr weiße Bergspitzen betreten die Bühne und bieten uns ein Schauspiel, das uns für (fast) alle Mühen entlohnt. Wer Protagonist, was Tribüne, das bleibt zweifellos immer eine Frage der Perspektive. In dem kleinen Städtchen Independencia stehen gewissermaßen wir auf dem Podest, werden von allen Seiten bestaunt und bewundert, Radfahrer wie uns habe man hier noch niemals gesehen. An beinahe jeder Haustür grüßt man uns freundlich, so manch einer legt uns den gutgemeinten Ratschlag ans Herz, doch zumindest bis zur nächsten Passhöhe einen Bus zu nehmen. Ein wenig Mitleid können sich vor allem die Dorffrauen nicht verkneifen und ein kleiner Junge, der uns einen halben (leider schweren) Kürbis mit auf den Weg gibt. Eine derartige Herzlichkeit und Offenheit der Landbevölkerung erstaunt und beglückt uns in derselben Weise. Bald verstehen wir auch die gutgemeinten Warnungen, der Weg ist erneut furchtbar steil, viel zu Schieben und das nur unter großem Kraftaufwand. Die Maisernte rundherum ist im vollem Gange, Einheimische und wir gleichermaßen sind am Schuften. Am Horizont ruht majestätisch der „schlafende Inca“ (Gebirgskette), den wir aus eisigen Höhen bewundern können, während uns der kräftige Nordwind die Stirn bietet und uns den Rückzug nahelegen will. Am höchsten Punkt können wir bereits erahnen, wo wir die nächste Nacht verbringen werden. Tief unter uns sucht sich ein breiter Fluss seinen Pfad durch die gebirgige Landschaft. Steil fällt der steinig holprige Weg ins Tal ab, pro hundert Höhenmeter scheint die Temperatur einen Grad zuzunehmen, die Hänge verkleiden sich in saftigem Grün und Sittiche schwirren aufgeregt über unsere Köpfe hinweg. Nach 2.000 Metern Abfahrt, die wir nur bedingt genießen, stehen wir am sandigen Flussbett. Jeden Tag ein Gipfelsieg, jeden Tag ein Talsturz, nur dass ersteres ¾ des Tages einnimmt und beinahe unsere gesamten Kräfte verschlingt. Umso nervöser werden wir, als die Straße unangekündigt vor einer Schranke endet. „Privatbesitz – Durchfahrt verboten“. Wie bitte? Was? Wohin? Wieso? Verwirrung macht sich breit… Sind wir 2000 Meter umsonst abgefahren? Alles zurück? Die einzige Brücke über den Fluss würde man außerdem als schwerst mangelhaft bezeichnen, besteht nämlich nur aus den Pfeilern, das wird schwierig... Erst eine Nacht darüber schlafen, ruhen und sammeln. Am nächsten Morgen können wir die Schranke gegen eine kleine Gebühr passieren, Straße stimmt, Richtung stimmt! Wir atmen durch, wenn auch nur kurz. Den Fluss müssen wir in an drei Stellen durchfurten und die Räder durch das knietiefe und stark strömende Wasser stemmen, bevor wir uns den nächsten „Hügel“ vornehmen. 16% maximale Steigung, 8% Durchschnitt, 1.350 hm. Mehr sog i ned. Teilweise wahnsinnig exponiert hängt die Straße am Berg, einspurig versteht sich, zur Rechten fällt der Hang 1.000 hm bis zum Flusstal ab. Orchideen wachsen in den bemoosten Bäumen, kleine Wasserfälle stürzen neben uns den Hang herab. Unglaublich grandios! Jeden Tag verändert sich die Vegetation mehr und mehr, nimmt die Gestalt der Subtropen an - Orangenbäume, Bananenstauden, Kaffee, Hibiskus und Bougainvillea. Bunte Schmetterlinge schillern im warmen Licht der Nachmittagssonne, der stille und königliche Flug der Kondore wird abgelöst durch lauthals kreischende Oropendolas, Papageien und Tucancillos, die den Luftverkehr übernehmen. Es ist spannend jeden Morgen in einer anderen Welt aufzuwachen, die wir für uns am Vortag erobert haben. „Hugo im Dschungel“ - ein ganz neues Erlebnis. Die schüchternen Kinder der Familie, die uns ein paar Quadratmeter ihres Dschungels borgt, schielen neugierig um die Ecke, ungewöhnliche Wegelagerer finden sie unter ihren Bananen. Sie versorgen uns mit Orangen und einer Papaya, teilen das Wenige, das sie besitzen auch mit uns… Die bunte Landschaft beherbergt eine gleichermaßen bunte Kultur. Die einst nach Potosi entführten afrikanischen Arbeiter, die sich dem rauen Klima in den frostigen Höhen nicht anpassen konnten, wurden hier angesiedelt. So passiert man kleine afrobolivianische Dörfchen - ein lebendiger Schmelztegel beider Kulturen. Vor den Häusern, auf den Dorfplätzen, auf jeder halbwegs ebenen Fläche trocknen Coca-Blätter in der Sonne, die zuvor in mühseliger Arbeit terrassen-förmig an den Hängen angebaut und geerntet werden. Ihr zartes Grün überzieht weithin die nun sanften und runden Berge. Sanft oder schroff, für uns bleibt die Anstrengung die Gleiche, am Ende eines jeden Tages stehen mehr als 1.000 Höhenmeter und trotz Schwerstarbeit scheinen wir nur langsam voranzukommen. Zu allem Überfluss weist unsere Landkarte zahlreiche Mängel auf - so stimmen teils weder Distanzen, noch die Lokalisation einiger Ortschaften. Gepaart mit den oft ambivalenten Aussagen der Ortsansässigen gestaltet sich die Navigation recht vage und schwierig. Beispielsweise kostet uns ein Städtchen namens Irupana einiges an Nerven – 44km sollten es dahin sein, schließlich überwinden wir mehr als hundert Kilometer, und passieren einige Ortschaften, die laut Karte weit außerhalb unserer Route liegen, bis wir endlich nach einem monströsen Tag mit 1.750 hm auf schlechtester Piste spät abends das Ziel erreichen (und den Namen für immer vergessen dürfen). Zehn Tage sind wir bereits pausenlos unterwegs, hügelauf und hügelab, längst sehnt sich jede Muskelfaser nach ausgiebiger Ruhe und der Geist nach Müßiggang. Umso mehr strengt uns die Weiterfahrt auf dreckiger und verkehrsreicher Straße an, auf der wir oft minutenlang in einem dichten Nebel aus Staub radeln dürfen. Bräunlich staubig, man könnte sagen“ paniert“, bitten wir am Abend um ein kleines Fleckchen Wiese neben einem kleinen Häuschen. Der liebenswürdige Tito, der in Konstanz am Bodensee maturiert hat, seine Mama und Schwester nehmen uns ohne Zögern in ihr Haus auf, versorgen uns mit Essen, heißer Dusche, Bett und überaus interessanten Gesprächen. Eine Wohltat für Körper und Geist -uns umgibt fast eine Art Wehmut als wir uns aus dieser Herzlichkeit wieder in den rauen Radleralltag stürzen… Zwei letzte anstrengende Tage und eine Nacht neben dem Schweinestall der rustikalen und fröhlichen Mara Pinto trennen uns von unserem lang ersehnten Zwischenziel – dann endlich Coroico! Zwölf Tage, 475 km, 12.000 hm, Unmengen an Schweiß, Kraft und Anstrengung, einiges an Tränen und Nerven, beeindruckende Landschaften und Bergpanoramen, unerwartete Großzügigkeit, Gastfreundlichkeit und interessante unvergessliche Begegnungen, bis wir vor uns den letzten Streich des Projektes Todesstraße bewältigen dürfen und müssen – den Camino Antiguo, DIE berühmt-berüchtigte Todesstraße selbst, die über 3.000 hm aus den subtropischen dampfenden Yungas in das hochandine La Paz führt. Noch in der Morgendämmerung, im dichten Nebel nach vier Tagen Regen, satteln wir die Räder und rumpeln durch das gerade erwachende Coroico – selbst noch etwas verschlafen - über Steinpflaster hinunter in das Nestchen Yolosa. Auf 1.200 Metern steigen wir ein in den Camino de la Muerte. Ein großes Schild weist auf den herrschenden Linksverkehr hin, damit die links sitzenden Lenker bei Gegenverkehr den Fahrbahnrand besser einsehen können, gilt auch für uns. Obwohl seit 2006 eine asphaltierte Umgehung in Betreib ist, begegnen uns schubweise Laster und Kleinbusse, für die wir uns gegen die Felswand lehnen müssen, um ein Passieren auf der einspurigen Schotterstraße überhaupt zu ermöglichen. Ab und an beginnt sich der Nebel zu lichten und wir erhaschen einen Blick auf die steil, annähernd senkrecht abfallenden Hänge unmittelbar neben uns, die so gut wie nie gesichert sind. Unglaublich eindrucksvoll! Zahlreiche Kreuze am Wegesrand erinnern an die dramatischen Verkehrsunfälle, denen die Straße ihren Namen „verdankt“ und sie einst zur gefährlichsten Straße der Welt machten. Davon abgesehen imponiert sie durch eine grandiose Landschaft und Vegetation - ein saftiges Grün aus Palmen, Bananen, Orchideen, Farnen und Moosen; Wasserfälle, überhängende Felsen und ein Panorama auf die umgebenden fruchtbaren Berge…Auf oft matschigem Untergrund und steilem Anstieg erarbeiten wir uns jeden Meter der Straße unter größter Anstrengung. Nach 1.902 hm, gebrochenem Höhenmeter-Rekord und (man verzeihe uns) vor Stolz schwelender Brust erreichen wir am Nachmittag die Kreuzung zur Asphaltstraße und haben die Krönung unserer Etappe erfolgreich überstanden. Überstanden? Beinahe …ja, der Asphalt hat uns wieder, der Paso „La Cumbre“ trennt uns allerdings noch vom Regierungssitz Boliviens. Mit brennenden, stark rebellierenden Oberschenkeln kämpfen wir uns weiter in die Höhe. Auf 4.670 Meter zwingt uns die Straße, erneute 1.550 hm müssen wir bewältigen, bevor uns das Durchatmen und mehr gekrächzte als gejubelte „Geschafft!“ gegönnt ist und wir endlich nach La Paz rollen dürfen. La Paz, der Frieden, lassen wir sie die Einleitung in ein neues Abenteuer sein… |
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November 2014
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