Zögernd bricht der Tag des ersten Juni an und errettet uns aus einer eisigen Nacht. 6.45h zeigt unser
Wecker. Zunächst eine heiße Dusche, ein für uns überdimensionales Frühstück und dann beginnt das langwierige Einpacken des Proviants für mindestens zehn Tage…20 l Wasser, 4 kg Pasta, 2kg Haferflocken, 14 Pck. Suppe, Schokolade, Erdnüsse, Kekse ohne Ende…vor uns liegt ein besonderes Abenteuer – ein Weg (vor dem in unserem Bike-Buch gewarnt wird) durch das bolivianische Altiplano mit frostigen Temperaturen, dünner Höhenluft, schwerst zu radelnden Wegen, unberechenbaren Wind- und Wettersituationen – die Lagunenroute oder Ruta de las Joyas altoandinas (Route der hochandinen Schmuckstücke) - klingt doch vielversprechend... An der chilenischen Grenze in San Pedro de Atacama erledigen wir zunächst die Ausreiseformalitäten, bevor wir ostwärts die Stadt verlassen. Nach etwa 10 km beginnt der satte Anstieg, der uns von 2.400 hm auf weit über 4.000 hm führen sollte. Zunächst lässt sich die Steigung noch gut bewältigen, ab ca. 3.000 hm beginnen wir die Höhe und das Gewicht unserer vollbepackten Räder deutlich zu spüren. Regelmäßige Pausen zum tief Durchatmen und Trinken sind unerlässlich. Die umgebende Landschaft entlohnt uns für alle Mühen – hinter uns die weite Ebene des Salar de Atacama (Chiles größter Salzsee) und die Silhouette des Valle de la Luna, im Nord-Osten der imposante Kegel des 5.900 m hohen Vulkans Licancabur. Die Steigung nimmt mehr und mehr zu, ebenso die Kurzatmigkeit und die Anzahl der Pausen. Auf 3.600 hm biwakieren wir mit Blick auf den Vulkan und eine friedlich grasende Alpaca-Herde. Nach mehr als 10 Stunden Schlaf und eisigem Einpacken setzen wir fort, wo am Vortag aufgehört - mitten im „Gipfelsturm“ auf den 4.650 m hohen Paso Hito Cajon-der chilenisch-bolivianische Grenzpass. Weder die kalte Muskulatur, noch die Anstrengung des Vortages und am wenigsten die dünne Höhenluft sind gute Voraussetzungen dafür. Stark schnaubend schleppen wir uns Richtung bolivianische Grenze. Endlich, kurz nach Mittag, erreichen wir die Abzweigung und damit leider auch das Ende des Asphaltes. Über teils gefrorene, teils matschig-nasse Schneefelder kämpfen wir uns noch wenige Kilometer bis zur Passhöhe durch, wo es für uns Adios Chile, Hola Bolivia heißt. Wir sind überglücklich am Grenzposten anzutreffen, denn bis vor kurzem (2-3 Tagen!) war er wegen starken Schneefalles gesperrt! Eine kleine Herde Vicunas begrüßt uns am Wegesrand und nach kurzem Bergabrollen erblicken wir das erste Schmuckstück der Route, die Laguna Blanca (Weiße Lagune), die sich malerisch an die angezuckerte Gebirgskulisse anschmiegt. Zwei Flamingos stolzieren im eisig kalten, größtenteils gefrorenen Wasser…wir sind sprachlos ob dieses bezaubernden Anblickes. Auf 4.350 hm campieren wir im Hof eines verlassenen Refugios mit Blick auf die Lagune. Am Morgen des dritten Tages erwachen wir in einem eisglasierten „Hugo“, das Thermometer zeigt -15°C. Erst die erlösenden wärmenden Sonnenstrahlen erlauben das vorsichtige Herauskriechen aus dem Schlafsack, um Wasser, das wir, um es vor Erfrierung zu bewahren, vorsorglich mit ins Bett nehmen müssen, für unser Frühstück zu kochen. Wir radeln zur nahegelegenen Laguna Verde (Grüne Lagune), die halbgefroren den kolossalen Licancabur widerspiegelt. Ein Verbindungsbach zwischen den Lagunen hindert uns am Weiterkommen, also Schuhe und Socken aus, um mit Mariposita und El Tigre durch das eisige Wasser waten zu können – eine morgendliche Erfrischung, die Kneipp alle Ehre machen würde. Ein letzter Blick zurück, bevor sich der Weg leicht ansteigend durch das Tal schlängelt und uns auf 4.764 hm hinaufführt. In der Ferne steigen zwei Rauchfahnen empor (Vulkan? Geysire?) und eine neue grandiose Landschaft offenbart sich… rötlich gestreifte Berge und die Desierto del Dali (Wüste des Dali), eine ebenmäßige Sandwüste, mit von Wind und Sand skurril geformten Felsskulpturen. Wir flitzen die Passhöhe hinunter zum Salar de Chalviri (Salzsee Chalviri), der bedeckt von gelben Grasbüscheln ein völlig neues Bild für uns darbietet. Im Becken der gleichnamigen heißen Quellen genießen wir die umliegenden Naturschönheiten und lassen den Tag zufrieden und glücklich ausklingen… Schon um 7h morgens (bei -12°C) schleichen wir noch etwas müde zum heißen Bad, um die Muskulatur auftauen zu lassen. Vor uns liegt eine kräftezehrende Etappe, die uns auf beinahe 5.000 hm führen wird. Zunächst kommen wir gut voran, gegen Mittag, beinahe prophetisch pünktlich, setzt ein enormer und eisig kalter Gegenwind ein, der gepaart mit schlecht fahrbarer Piste unser Vorankommen grausam anstrengend macht. Entkräftet erblicken wir am höchsten Punkt der gesamten Route (4.901 hm) unser Ziel – Sol de Mañana (Morgensonne), das höchste Geysirfeld der Welt. Immer der Nase nach dem intensiven Schwefelgeruch folgend befinden wir uns alsbald inmitten einer gigantischen Hexenküche, in der es an allen Ecken und Enden raucht, dampft, blubbert und brodelt. Ein fantastischer Ort (und auch der höchste) für unser Biwak… Sowie die Temperaturen abends beinahe minütlich abfallen, so klettern sie am Morgen durch die Kraft der Sonne wieder hinauf. Auch in dieser enormen Höhe werden wir irgendwann von den frostigen Klauen der Nacht befreit und können unseren Weg fortsetzen. Ein weiteres Highlight wartet bereits auf uns. Ob der lückenhaften Wegbeschreibungen und komplett fehlenden Beschilderungen führen uns gutes Raten und Instinkt auf die richtige Fährte. Erst als wir in der Ferne am Fuße der schneebedeckten Berge einen rötlichen Schimmer umgeben von weißem Saum aus Salz erkennen, atmen wir erleichtert durch – vor uns liegt die märchenhafte Laguna Colorada (Bunte Lagune). Im spätnachmittäglichen Licht leuchte sie orange-rosa und an die Kolorierungen perfekt angepasst stolzieren unzählige Flamingos anmutig durch das flache Gewässer. Ein berauschender Anblick wie aus einer anderen Welt, in der die Macht der Fantasie regiert... Auch am Folgetag, bereits Tag 6 unseres Abenteuers, können wir uns solcher surrealen Empfindungen nicht erwehren. Wir durchqueren die silolische Wüste, rote weite Sandflächen umgeben von den mächtigen Gebirgszügen, bis wir einen Wald aus Felsen erreichen, die ihre skurrile Gestalt der hartnäckigen jahrhundertelangen Arbeit von Wind und Sand verdanken. In ihrer Mitte thront altehrwürdig der Arbol de Piedra (Baum aus Stein), das Herzstück dieser Naturschönheiten… Eine furchtbar schlechte Piste führt uns zurück in die Härte der Realität. Das Wetter hat sich über Nacht verändert, die befreiende Sonne wird von dichten Wolken überlagert. Über Stock und Stein fühlt sich das Radeln wir ein Humpeln und Fallen an, eine schlaflose Nacht und der ab mittags einsetzende Wind potenzieren die Strapazen. Am Abend schmerzt der gesamte Körper und die Gedanken kreisen unaufhörlich um die drohenden Wolken, die sich auf dieser Höhe nur in Form von Schnee entleeren würden…eine weiter schlechte und schlaflose Nacht… Der Morgen ist trocken, Erleichterung einerseits, völlige Erschöpfung andererseits machen sich breit. Allein die nachfolgenden „Flamingolagunen“ bauen unser Gemüt auf und entlohnen uns für die Beschwerlichkeiten. Hunderte Flamencos waten durch das Wasser, auf der Suche nach Nahrung. Wir befinden, ohne auch nur zu zögern, die anmutigsten und vornehmsten Vögel hier bestaunen zu dürfen. Ähnlich angetan sind die vielzähligen Touristen, die in Jeeps durch die hochandinen Schmuckstücke chauffiert werden, allerdings stellen auch wir für sie offenbar eine gewisse Attraktion dar... Gestärkt von unserer Mittagspause und den magischen Momenten mit den Flamingos beginnen wir den misslichsten Pistenabschnitt der Lagunenroute. Waschbrett von der übelsten Sorte garniert mit riesigen Steinen, verwandeln das Radeln in einen Balanceakt, um nicht abgeworfen zu werden. Nebel umhüllt uns zudem und um alle Bedingungen eines wahrhaftigen Abenteuers zu erfüllen, wirbeln Sturmböen den befürchteten Schnee in unsere vor Kälte geröteten Gesichter…Alles Leid hat irgendwann ein Ende und alle Grausamkeiten werden mit dem Beginn einer ebenen Fahrbahn und sonnigem nächstem Morgen abgegolten… Eine lang ersehnte Abfahrt am Fuße des Vulkans Ollagüe bringt uns auf den Salar de Chiquana – ein erhebendes Gefühl mit rasanter Geschwindigkeit über den ebenen und harten Salzsee brausen zu dürfen und am Ende in San Juan del Rosario mit einem unbeschreiblichen Reichtum an Eindrücken „einzureiten“. Müde, staubig, hungrig, durstig, aber überglücklich und stolz. Nach einem erholsamen Tag im ersten bolivianischen Dörfchen und Salzhotel brechen wir voll der Vorfreude zu einem der Highlights schlechthin auf. Wie zuvor holpern, stolpern und pflügen wir so recht und schlecht dahin, erraten den richtigen Weg mehr, als ihn zu kennen und werden nach einer überraschend lauen Nacht am Morgen von weihnachtlichen Gefühlen übermannt – fünf Zentimeter Neuschnee zieren unseren Vorgarten und Hugos Zinnen. Unsere Freude hält sich in Grenzen, rasch packen wir unsere sieben Sachen um der weiteren drohenden Schlechtwetterfront, die sich bereits schwarz-grau über uns zusammenbraut zu entfliehen. Durchgefroren bis auf die Knochen finden wir Unterschlupf in einem Hotel, ganz und gar aus Natriumchlorid - oder so- erbaut. Mauern, Boden, Bett, Tische, Stühle, alles aus Salzblöcken gefertigt. Am Folgemorgen endlich…trocken, schneefrei und der Himmel ansatzweise blau. Aufgeregt besteigen wir zeitig die Sättel radeln los ins unendliche Weiß des größten Salzsees der Erde, des monumentalen Salar de Uyuni. Keine adequaten Worte können diesen zauberhaften weißen Riesen beschreiben, der von einem Gitter aus hexagonalen Strukturen überzogen ist und nur am fernen Horizont von den schneebedeckten Bergen umrahmt wird. Atemberaubend und zweifelsohne konkurrenzlos. Wir zücken den Kompass, Fahrtrichtung Nord-nach und nach taucht das Tagesziel, die Isla Incahuasi vor uns auf-Hurra, wir liegen Richtig! Die Felsen sind Korallenüberreste, bewachsen von tausend Jahre alten und an die zehn Meter hohen Kakteen und umgeben vom endlos scheinenden Meer aus Salz. Als Radfahrer dürfen wir hier zelten und uns ins Goldene Buch der Ciclistas eintragen, in dem wir die Unterschriften einiger Bekannter wiederfinden. Einen weiteren Tag gleiten wir über das ewige Weiß und erreichen schlussendlich Uyuni, das Ziel einer langen, kräftezehrenden, gewiss jedoch unvergleichlich abenteuerlichen, magischen und unvergesslichen Etappe, die uns den Zauber Boliviens nähergebracht hat…Doch das ist erst der Anfang…
2 Comments
Kiniger
17/6/2013 12:10:55
einfach nur fantastisch!!
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Barbara
18/6/2013 13:25:03
Heei Agnes und Christopher,
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November 2014
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