Liebes Tagebuch!
Wir stehen 30 Meilen vor New York City, halten einen letzten Rasttag nach zehn unermüdlichen Tagen durch die hügeligen Wälder und Wiesen Pennsylvanias. Das Ende einer Etappe ist nah - das Ende unserer Odyssee, ein Epos unserer Biographie hat somit den Zenit der verfügbaren Zeit längst überschritten. Oft blicken wir sehnsüchtig in die Zukunft, visualisieren unsere Heimkehr und die Freuden des Wiedersehens. Öfter noch driften wir in die Vergangenheit der letzten zwei Jahre ab und schwelgen in unauslöschlichen Erinnerungen… Es ist der 23. Juni, unser zweiter Hochzeitstag, ein untrügliches Zeichen wie sehr die Zeit vorangeschritten ist. Bisher eine Ehe auf zweimal zwei Rädern, ein besonderer Einstieg in eine gemeinsame Zukunft mit Proben und Prüfungen, die einem herkömmlichen Alltag kaum oder vielleicht auch nur ganz anders entspringen würden. Wir begehen den Tag mit einem feudalen Frühstück und der Überquerung des Mississippi River an beinahe jener Stelle, wo Mark Twain zu seinen Geschichten und Abenteuern von Tom Sawyer und Huck Finn inspiriert wurde. Die anschließenden Meilen werden allerdings weniger inspirierend als erhofft. Mais und Sojabohnen, Sojabohnen und Mais, mal rechterhand, mal linkerhand….den lieben langen Tag nichts als Sojabohnen und Mais. Die Monotonie wird ab und an durch eine schmucke rote Scheune oder ein kleines Städtchen unterbrochen. Vor allem aber sind es die Menschen, die hier unsere Tage zum Erblühen bringen. Egal wie schwer uns ein Tag fällt, wie wenig Abwechslung es geben mag oder wie sehr uns das mehrheitlich schlechte und feuchte Wetter plagt, am Ende des Tages gibt es immer einen Menschen, der uns zu Hilfe eilt, uns einen Schlafplatz anbietet, mit Essen versorgt oder eine heiße Dusche organisiert. Am Morgen keinerlei Idee davon zu haben, wo man am Ende des Tages landen, wem man begegnen und wie man die Nacht verbringen wird, ist eines der größten Abenteuer im langen, weiten und endlos scheinenden Midwest. Mal schnarchen wir friedlich zwischen liebevoll restaurierten Oldtimer Autos, eine andermal frühstücken wir wie alte Freunde am Sonntags-Morgentisch Pancakes und Sirup, wieder ein andermal schickt uns ein Mountainbiker durch seine Drive-thru Pizzeria, um uns mit einem außergewöhnlich schmackhaften Abendessen zu verwöhnen …eine Liste die sich endlos fortsetzen ließe. Langsam aber sicher lassen wir die flachen Staaten hinter uns, erste Milchfarmen und Getreidefelder lassen unsere Herzen höher schlagen und dankbar bezwingen wir wieder den einen oder anderen Hügel, ein Perspektivenwechsel, nach welchem wir uns nahezu gesehnt hatten. Zulasten der Kilometer steigen die Höhenmeter, was aber dennoch nichts an der Tatsache ändert, die uns subtil und langsam ins Bewusstsein dringt. Wir waren zu schnell, haben zu viel Zeit und zu wenig ausstehende und zu bezwingende Distanz zu unserem Ziel New York, Big Apple, Stadt, die nicht schläft. Was tun? Ruhen? Umwege suchen? Canada? Niagara Falls? Die Möglichkeiten erscheinen endlos und doch begrenzt, woraus resultierend wir uns erst mal etwas nordwärts Richtung Eriesee orientieren, um eine weitere Entscheidung an den Ufern des gro0en Sees zu treffen. Was uns nicht bewusst ist, es dauert bis man überhaupt ein Ufer erreicht, denn über weite Strecken ist die südliche Küste ein riesen unzugängliches Schwemm- und Sumpfland oder aber industriell verbaut. Spätestens als wir ein Atomkraftwerk passieren fühlen wir einen Anflug von Enttäuschung über die doch etwas andere Seenerfahrung, als erhofft. Aber wer wird denn gleich den Kopf hängen lassen. Industrie hat auch seine Vorteile, wenn daraus zum Beispiel einer der größten Amusement Parks der Welt hervorgeht – Cedar Point. Zumindest das lassen wir uns nicht entgehen und verbringen einen Tag Kopf-über hängend, an kleine Wägelchen gekrallt oder schreiend in einem der unzähligen Rollercoaster auf der Halbinsel des Eriesees. Das bringt uns in die richtige Laune zum Feiern, der 4. Juli = Independence Day steht bevor und schon am Morgen warten einige Leute gespannt auf die anstehenden Paraden. Die Geschäfte quellen nahezu über mit rot-blau-weißen Fahnen, Keksen, Kuchen, Servietten, Papptellern, Chips…unglaublich was man so alles in rot-blau-weiß einfärben kann. Wir dürfen uns an diesem Abend Gäste von Dr. Dave und seiner charmanten Frau Donna nennen, die uns ein herrliches Dinner zaubern und fast auf das Feuerwerk im Herzen der Collegestadt Wooster vergessen lassen. Geographisch befinden wir uns im Osten Ohios und nun beginnt es sowohl landschaftlich als auch kulturell wieder interessant zu werden. Ein wenig eigenartig, dass man sich als Radfahrer in den Bergen wohler fühlt, als in der Ebene… es sei dahingestellt welche genauen Beweggründe es dafür gibt. Mittlerweile scheint es zu einer routinierten Antwort geworden zu sein, dass wohl ein Mindestmaß an Leid für ein außergewöhnliches Erlebnis nahezu unerlässlich zu sein scheint. Seis drum, Pennsylvania ist der Bundesstaat der Apalachen und entsprechend mehr an Anstrengung erfordert die Überwindung der weiteren Meilen. Thematisch reiht sich das Gebiet sehr passend an unser Funpark Erlebnis an - auf und ab und auf und ab und das nicht allzu knapp und vor allem sehr steil. Steigungen bis zu 13% sind keine Seltenheit und in Kombination mit einer durchschnittlich 100 Kilometer Distanz spüren wir den Unterschied recht deutlich. Nichts geht da über ein wenig Ablenkung und die bietet uns eine für uns völlig fremde und spannende Kultur. Die Amischen sind eine Glaubensgemeinschaft, die sich dem technischen Fortschritt in vielerlei Hinsicht vollkommen verschlossen hat, was zu einem ambivalent kontrastreichen Bild führt. Straßenschilder weisen auf das vermehrte Aufkommen von Pferdekutschen hin, die man bei genauerem Hinsehen in den doch modernen Garagen oder auf den Straßen erspähen kann. Männer tragen einen charakteristischen Bart mit freigelassener Oberlippe, dazu einen Strohhut und einen Haarschnitt, den man wohl einfach als Topffrisur bezeichnen könnte. Die großen Farmen werden oft mit einfachsten Mitteln bewirtschaftet, Pferdegespanne und Handarbeit stehen an der Tagesordnung und die schmackhaften Produkte werden auf den Bauernmärkten oder an der Straße feilgeboten. Da müssen auch wir uns eindecken und werden von einem geschäftstüchtigen Amischjungen freundlich bedient. Obwohl die Lebensweise dieser Menschen so fremd auf uns wirkt - ein wenig fühlen wir uns wie in einem Filmset- weckt sie dennoch auch eine gewisse Sehnsucht nach einem einfachen und unkomplizierten Leben. Als wir allerdings auf einer dieser Farmen um ein Fleckchen zum campen bitten, merken wir wie fern wir dieser Kultur sind und die Welten die uns trennen. Wer für wen exotischer war bleibt dahingestellt, auch ob wir mit schwerst bepackten Rädern als typische Vertreter unserer Kultur gelten... Zeltplatz gabs jedenfalls keinen. Der Osten ist hügelig, grün und baumreich. Wann immer wir eine der endlosen Anhöhen erklommen haben bietet sich ein weites Panorama über die Wälder, die bis an den Horizont reichen. Nach Langem bietet sich wieder einmal die Gelegenheit in einem der National Forests auf einer weiten Lichtung inmitten des Waldes zu campen. Ein idyllischeres Fleckchen könnte man sich kaum wünschen. Während wir am kleinen Lagerfeuer sitzen und meditativ in die züngelnden Flammen starren betreten zwei Hirschkühe die Wiese, beobachten unser Lager und verabschieden sich alsbald auf die Nachbarlichtung, wo sie ungestörter ihr Nachtmahl zu sich nehmen können. Während die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwindet und der Mond in seiner vollen Pracht seinen Auftritt vorbereitet, bieten Millionen an Glühwürmchen ein besonderes Schauspiel. Bei anbrechender Dämmerung beginnen sie mit synchronem Aufblinken einen Lichterteppich zu bilden, der beinahe bis an den Horizont reicht. Ein wahrhaft märchenhafter Tanz, der uns magisch in seinen Bann zieht und verzaubert. Was Pennsylvania allerdings und leider keineswegs vom Midwest unterscheidet, ist die wiederholt recht angespannte Wettersituation. Jeden zweiten Tag versuchen wir einem der zahlreichen Gewitter zu entfliehen, werden vor Tornados gewarnt oder schlicht und einfach bis auf die Unterwäsche von heftigen Schauern durchnässt. Es sollte an unserem letzten Tag sein, den wir auf unserer West-Ost Tour campend verbringen, an dem uns ein besonderes Abenteuer wach hält…Die Szene spielt unter einer Highway Brücke, die Protagonisten sind klar, die Kulisse bildet ein unscheinbarer kleiner und nicht sehr wasserreicher Bach, der gemächlich unter der breiten Brücke seines „Weges“ fließt und damit wahrlich keine große Aufmerksamkeit erregt. Klingt eigentlich recht beschaulich und in Anbetracht der Tatsache, dass unzählige Trucks und Autos über unsere Köpfe hinwegrollen, ein friedliches Plätzchen. Wir baden im Bach, genießen ein verführerisches Campingdinner alla Instantnudel in feiner Zucchini-soße und betten alsbald unsere müden Körper und Köpfe auf den weichen Matratzen, die schon so vieles mit uns durchgemacht haben. Es beginnt zu blitzen, zu donnern und heftigst zu regnen und noch freuen wir uns über das doppelte Dach (Hugo und Brücke), das uns diese Nacht bestimmt trocken halten wird. Man nennt den nächsten Umstand, der uns aus dem Zelt blicken lässt, wohl Bauchgefühl. Das schmächtige Rinnsal muss binnen kürzester Zeit zu einem reißenden Fluss angeschwollen sein und droht all unser Hab und Gut in seinen Fluten fortzuschwemmen. Wir schnappen Hugo, der bereits zur Hälfte im Wasser steht und schleppen ihn auf einen dicht bewachsenen Hügel, schaffen die Räder aus der Schusslinie und fischen in den Wassermassen was es da zu fischen gibt…Kocher, Pfannen, Straßenkarten, Schuhe… Eine Pyjamaparty der besonderen Art, deren einzige zu beklagende Opfer ein Pfannenwender, ein Kaffeebecher und ein Radhandschuh sind. Es möge ihnen gut gehen wo sie gestrandet sind… Es verbleiben drei Tagesreisen bis New York, die wir dank „warmshowers“ (Organisation für Beherbergung zwischen gastfreundlichen Radreisenden) auch ohne Hugo überbrücken können. Ein Tag näher am Ziel, ein Tag weniger des Weges.
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November 2014
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