2/8/2013 Vom Leben und Überleben auf der "Todesstrasse" und anderen Bolivianischen AbenteuernRead NowUnsere Geschichte beginnt an einem Montag, der Start in eine ganz „gewöhnliche Arbeitswoche“, die es auch für uns gibt. Schnell die letzten Bissen des Frühstücks hinunterschlingen, Fotoshooting mit Gastgeber Hutch, Hugo abbauen, die Räder satteln und im Nu sind wir „on the road again“. Das grobe Ziel – La Paz. Nun gibt es hier zum Einen die asphaltierte und stark frequentierte Hauptstraße, zum Anderen einen klitzekleinen Umweg über die sogenannten Yungas, eine sub-und -tropische Region im Norden der Metropole. Die Straße, sollte es überhaupt eine sein, kennt zu unserem Nachteil niemand (nichtmal die Polizisten im Ort wo diese abzweigt), ist auch nirgends beschrieben und lässt uns zumindest erahnen, dass es sich dabei wohl eher nicht um die einfachere der beiden Varianten handelt. Für kurze Zeit verschlingt uns noch das Verkehrsgetümmel Cochabambas, bevor eine unmarkierte Straße rechts abzweigt und uns geradewegs in die Berge hineinführt. Noch breiten sie sich vor uns wie eine gewaltige Mauer aus, kein Weg sichtbar der uns darüber führen oder besser noch daran vorbeischmuggeln könnte. Der Asphalt endet, Empiedrada beginnt…Nicht schon wieder - tiefe Seufzer - denn die Erinnerungen an die letzte derartige Radl-Erfahrung sind doch noch schmerzvoll aktuell und lassen uns unsere Pläne zumindest im Ansatz kritisch hinterfragen. Zu allem Überfluss wird die Steigung rasch und zunehmend steiler, bis zu 15%, sodass zuweilen auch das Schieben über die groben Pflastersteine zu einem außerordentlichen Kraftakt wird und ca. die Hälfte unseres Teams (wir wollen ehrlich sein, die weibliche) in Tränen aufgelöst am Straßenrand hockt - Rad stiefmütterlich in weiter Ferne - und über den Sinn der Operation „Todesstraße“ sinniert… Hinter uns verschwindet nur langsam das Häusermeer der Stadt, vor uns noch immer keine Aussicht auf ein Ende der Qualen, zumal wir auch erst den zweiten Tag (von noch ungeahnt vielen) unterwegs sind. Mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten, brennenden Oberschenkeln, das ferne Ziel vor unserem geistigen Auge, gelangen wir zur Passhöhe auf 4.400 Metern Höhe, 2.000 Meter über unserem Ausgangsort. Karg und teils schneebedeckt umgeben uns trotz der Höhe die noch gewaltigeren Fünftausender, seit Langem beobachten wir wieder Alpaca-und Lama-Herden in den spärlich bewachsenen Hängen grasen und Kondore kunstvoll über uns kreisen. Inmitten der friedvollen Hochland-Kollage schlagen wir das Nachtlager auf. Am Folgemorgen rollen wir erst mal lange bergab – endlich (!?) - durch aromatische Eukalyptuswälder, vorbei an Bauern und Bäuerinnen, die schon frühmorgens ihre Ochsen auf die Felder führen. Das ländliche Leben, das imposante Panorama in die umliegende Bergwelt, beides lenkt unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich und so bemerken wir erst beim Anblick der nächsten „Subida“ (Anstieg), die sich mit 16% steil an den Felsen schmiegt, der neben ihr unmittelbar in die Tiefe führt, dass wir wieder unsere Ausgangshöhe erreicht haben und alle mühevolle Arbeit der letzten zwei Tage in zwei Stunden „zunichte gemacht“ wurde. Der letzte passierende Pickup vor Einbruch der Dämmerung hält neben uns und die gut gelaunte Mannschaft an Straßenarbeitern muss wohl Mitleid mit uns gehabt haben, lässt uns an einem Schälchen Fanta laben und spendiert uns ein Säckchen Coca-Blätter. „Heiter immer weiter mit der Boca (Mund) voll mit Coca“ lautet das Motto unter dem wir am nächsten Vormittag einen weiteren Berg erarbeiten. Die Fernsicht scheint uneingeschränkt, je höher wir uns hinaufarbeiten, desto mehr weiße Bergspitzen betreten die Bühne und bieten uns ein Schauspiel, das uns für (fast) alle Mühen entlohnt. Wer Protagonist, was Tribüne, das bleibt zweifellos immer eine Frage der Perspektive. In dem kleinen Städtchen Independencia stehen gewissermaßen wir auf dem Podest, werden von allen Seiten bestaunt und bewundert, Radfahrer wie uns habe man hier noch niemals gesehen. An beinahe jeder Haustür grüßt man uns freundlich, so manch einer legt uns den gutgemeinten Ratschlag ans Herz, doch zumindest bis zur nächsten Passhöhe einen Bus zu nehmen. Ein wenig Mitleid können sich vor allem die Dorffrauen nicht verkneifen und ein kleiner Junge, der uns einen halben (leider schweren) Kürbis mit auf den Weg gibt. Eine derartige Herzlichkeit und Offenheit der Landbevölkerung erstaunt und beglückt uns in derselben Weise. Bald verstehen wir auch die gutgemeinten Warnungen, der Weg ist erneut furchtbar steil, viel zu Schieben und das nur unter großem Kraftaufwand. Die Maisernte rundherum ist im vollem Gange, Einheimische und wir gleichermaßen sind am Schuften. Am Horizont ruht majestätisch der „schlafende Inca“ (Gebirgskette), den wir aus eisigen Höhen bewundern können, während uns der kräftige Nordwind die Stirn bietet und uns den Rückzug nahelegen will. Am höchsten Punkt können wir bereits erahnen, wo wir die nächste Nacht verbringen werden. Tief unter uns sucht sich ein breiter Fluss seinen Pfad durch die gebirgige Landschaft. Steil fällt der steinig holprige Weg ins Tal ab, pro hundert Höhenmeter scheint die Temperatur einen Grad zuzunehmen, die Hänge verkleiden sich in saftigem Grün und Sittiche schwirren aufgeregt über unsere Köpfe hinweg. Nach 2.000 Metern Abfahrt, die wir nur bedingt genießen, stehen wir am sandigen Flussbett. Jeden Tag ein Gipfelsieg, jeden Tag ein Talsturz, nur dass ersteres ¾ des Tages einnimmt und beinahe unsere gesamten Kräfte verschlingt. Umso nervöser werden wir, als die Straße unangekündigt vor einer Schranke endet. „Privatbesitz – Durchfahrt verboten“. Wie bitte? Was? Wohin? Wieso? Verwirrung macht sich breit… Sind wir 2000 Meter umsonst abgefahren? Alles zurück? Die einzige Brücke über den Fluss würde man außerdem als schwerst mangelhaft bezeichnen, besteht nämlich nur aus den Pfeilern, das wird schwierig... Erst eine Nacht darüber schlafen, ruhen und sammeln. Am nächsten Morgen können wir die Schranke gegen eine kleine Gebühr passieren, Straße stimmt, Richtung stimmt! Wir atmen durch, wenn auch nur kurz. Den Fluss müssen wir in an drei Stellen durchfurten und die Räder durch das knietiefe und stark strömende Wasser stemmen, bevor wir uns den nächsten „Hügel“ vornehmen. 16% maximale Steigung, 8% Durchschnitt, 1.350 hm. Mehr sog i ned. Teilweise wahnsinnig exponiert hängt die Straße am Berg, einspurig versteht sich, zur Rechten fällt der Hang 1.000 hm bis zum Flusstal ab. Orchideen wachsen in den bemoosten Bäumen, kleine Wasserfälle stürzen neben uns den Hang herab. Unglaublich grandios! Jeden Tag verändert sich die Vegetation mehr und mehr, nimmt die Gestalt der Subtropen an - Orangenbäume, Bananenstauden, Kaffee, Hibiskus und Bougainvillea. Bunte Schmetterlinge schillern im warmen Licht der Nachmittagssonne, der stille und königliche Flug der Kondore wird abgelöst durch lauthals kreischende Oropendolas, Papageien und Tucancillos, die den Luftverkehr übernehmen. Es ist spannend jeden Morgen in einer anderen Welt aufzuwachen, die wir für uns am Vortag erobert haben. „Hugo im Dschungel“ - ein ganz neues Erlebnis. Die schüchternen Kinder der Familie, die uns ein paar Quadratmeter ihres Dschungels borgt, schielen neugierig um die Ecke, ungewöhnliche Wegelagerer finden sie unter ihren Bananen. Sie versorgen uns mit Orangen und einer Papaya, teilen das Wenige, das sie besitzen auch mit uns… Die bunte Landschaft beherbergt eine gleichermaßen bunte Kultur. Die einst nach Potosi entführten afrikanischen Arbeiter, die sich dem rauen Klima in den frostigen Höhen nicht anpassen konnten, wurden hier angesiedelt. So passiert man kleine afrobolivianische Dörfchen - ein lebendiger Schmelztegel beider Kulturen. Vor den Häusern, auf den Dorfplätzen, auf jeder halbwegs ebenen Fläche trocknen Coca-Blätter in der Sonne, die zuvor in mühseliger Arbeit terrassen-förmig an den Hängen angebaut und geerntet werden. Ihr zartes Grün überzieht weithin die nun sanften und runden Berge. Sanft oder schroff, für uns bleibt die Anstrengung die Gleiche, am Ende eines jeden Tages stehen mehr als 1.000 Höhenmeter und trotz Schwerstarbeit scheinen wir nur langsam voranzukommen. Zu allem Überfluss weist unsere Landkarte zahlreiche Mängel auf - so stimmen teils weder Distanzen, noch die Lokalisation einiger Ortschaften. Gepaart mit den oft ambivalenten Aussagen der Ortsansässigen gestaltet sich die Navigation recht vage und schwierig. Beispielsweise kostet uns ein Städtchen namens Irupana einiges an Nerven – 44km sollten es dahin sein, schließlich überwinden wir mehr als hundert Kilometer, und passieren einige Ortschaften, die laut Karte weit außerhalb unserer Route liegen, bis wir endlich nach einem monströsen Tag mit 1.750 hm auf schlechtester Piste spät abends das Ziel erreichen (und den Namen für immer vergessen dürfen). Zehn Tage sind wir bereits pausenlos unterwegs, hügelauf und hügelab, längst sehnt sich jede Muskelfaser nach ausgiebiger Ruhe und der Geist nach Müßiggang. Umso mehr strengt uns die Weiterfahrt auf dreckiger und verkehrsreicher Straße an, auf der wir oft minutenlang in einem dichten Nebel aus Staub radeln dürfen. Bräunlich staubig, man könnte sagen“ paniert“, bitten wir am Abend um ein kleines Fleckchen Wiese neben einem kleinen Häuschen. Der liebenswürdige Tito, der in Konstanz am Bodensee maturiert hat, seine Mama und Schwester nehmen uns ohne Zögern in ihr Haus auf, versorgen uns mit Essen, heißer Dusche, Bett und überaus interessanten Gesprächen. Eine Wohltat für Körper und Geist -uns umgibt fast eine Art Wehmut als wir uns aus dieser Herzlichkeit wieder in den rauen Radleralltag stürzen… Zwei letzte anstrengende Tage und eine Nacht neben dem Schweinestall der rustikalen und fröhlichen Mara Pinto trennen uns von unserem lang ersehnten Zwischenziel – dann endlich Coroico! Zwölf Tage, 475 km, 12.000 hm, Unmengen an Schweiß, Kraft und Anstrengung, einiges an Tränen und Nerven, beeindruckende Landschaften und Bergpanoramen, unerwartete Großzügigkeit, Gastfreundlichkeit und interessante unvergessliche Begegnungen, bis wir vor uns den letzten Streich des Projektes Todesstraße bewältigen dürfen und müssen – den Camino Antiguo, DIE berühmt-berüchtigte Todesstraße selbst, die über 3.000 hm aus den subtropischen dampfenden Yungas in das hochandine La Paz führt. Noch in der Morgendämmerung, im dichten Nebel nach vier Tagen Regen, satteln wir die Räder und rumpeln durch das gerade erwachende Coroico – selbst noch etwas verschlafen - über Steinpflaster hinunter in das Nestchen Yolosa. Auf 1.200 Metern steigen wir ein in den Camino de la Muerte. Ein großes Schild weist auf den herrschenden Linksverkehr hin, damit die links sitzenden Lenker bei Gegenverkehr den Fahrbahnrand besser einsehen können, gilt auch für uns. Obwohl seit 2006 eine asphaltierte Umgehung in Betreib ist, begegnen uns schubweise Laster und Kleinbusse, für die wir uns gegen die Felswand lehnen müssen, um ein Passieren auf der einspurigen Schotterstraße überhaupt zu ermöglichen. Ab und an beginnt sich der Nebel zu lichten und wir erhaschen einen Blick auf die steil, annähernd senkrecht abfallenden Hänge unmittelbar neben uns, die so gut wie nie gesichert sind. Unglaublich eindrucksvoll! Zahlreiche Kreuze am Wegesrand erinnern an die dramatischen Verkehrsunfälle, denen die Straße ihren Namen „verdankt“ und sie einst zur gefährlichsten Straße der Welt machten. Davon abgesehen imponiert sie durch eine grandiose Landschaft und Vegetation - ein saftiges Grün aus Palmen, Bananen, Orchideen, Farnen und Moosen; Wasserfälle, überhängende Felsen und ein Panorama auf die umgebenden fruchtbaren Berge…Auf oft matschigem Untergrund und steilem Anstieg erarbeiten wir uns jeden Meter der Straße unter größter Anstrengung. Nach 1.902 hm, gebrochenem Höhenmeter-Rekord und (man verzeihe uns) vor Stolz schwelender Brust erreichen wir am Nachmittag die Kreuzung zur Asphaltstraße und haben die Krönung unserer Etappe erfolgreich überstanden. Überstanden? Beinahe …ja, der Asphalt hat uns wieder, der Paso „La Cumbre“ trennt uns allerdings noch vom Regierungssitz Boliviens. Mit brennenden, stark rebellierenden Oberschenkeln kämpfen wir uns weiter in die Höhe. Auf 4.670 Meter zwingt uns die Straße, erneute 1.550 hm müssen wir bewältigen, bevor uns das Durchatmen und mehr gekrächzte als gejubelte „Geschafft!“ gegönnt ist und wir endlich nach La Paz rollen dürfen. La Paz, der Frieden, lassen wir sie die Einleitung in ein neues Abenteuer sein…
3 Comments
Kiniger
2/8/2013 16:43:47
Einfach a Wahnsinn! Gratulation und danke für den so spannenden Bericht und die Fotos!
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karli+betti
4/8/2013 13:55:32
Heiho, ihr 2 Radelfahrer! Wir haben uns gerade euren letzten Reisebericht samt Fotos gegeben und sind schwer beeindruckt! Wir wünschen euch noch weiterhin stramme Wadeln und viel Luft im Reifen! Lg
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Michael
10/8/2013 14:41:06
wow, super bericht, hut ab vor eurer leistungen. lg aus feldkirch
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